Netzwerk: Altmarkkreis-Salzwedel
Wer in Gruppen Theater spielt, findet elementare Zugänge zu Sprache und selbstbewusstem Gestalten. Wer im kulturpädagogischen Projekt seine Rolle findet, übernimmt auch anderswo Verantwortung. Wer Bilder erfindet und gestaltet, formt Fantasie und erwirbt somit eine gesellschaftlich relevante Schlüsselkompetenz. Kreativität ist die grundlegende Voraussetzung für die Innovationskraft jeder gesellschaftlichen Entwicklung.
Im Altmarkkreis-Salzwedel wurde im Jahr 2022 eine Bedarfsanalyse zu folgenden Fragen durchgeführt: „Welche Strukturen kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche gibt es bereits?“, „Welche Bedarfe ergeben sich daraus?“. Hierfür wurden viele Einzel- und Gruppengespräche mit Personen aus den Bereichen Schule, Kultur, Jugendarbeit sowie kommunale Verwaltung geführt. Als gemeinsamer Bedarf wurde der Wunsch nach einer Institution formuliert, die die Möglichkeiten der kulturellen Agierenden vor Ort bündelt, Gelder akquiriert, mehr mobile und partizipative Angebote gemeinsam mit anderen Agierenden der Jugendarbeit ausarbeitet und anbietet sowie die Zusammenarbeit mit Schulen begünstigt.
Ein Bedarf also, der in anderen Regionen Deutschlands von Jugendkunstschulen bzw. kulturpädagogischen Einrichtungen erfüllt wird. Hierbei handelt es sich um spartenübergreifende außerschulische Einrichtungen der kulturellen Bildung, die mobil, bedarfsorientiert und emanzipatorisch kulturelle Kinder- und Jugendbildungsarbeit betreiben. Jugendkunstschulen kooperieren dabei insbesondere mit Schulen und Kitas sowie mit Jugend-, Bildungs- und Kultureinrichtungen, als auch mit Agierenden des informellen Lernens. Sie sind sichtbar und wirken kommunal und regional als identitätsstiftend. In Sachsen-Anhalt gibt es aktuell drei Jugendkunstschulen, in Thüringen 15 und in Bayern über 50. Die Zahlen zeigen Handlungsbedarf.
Ein wesentlicher Teil der Bedarfsanalyse war eine in der zweiten Jahreshälfte 2022 durchgeführte Zukunftswerkstatt, die sich an folgenden Fragestellungen orientiert hat: „Was wäre, wenn Salzwedel eine Jugendkunstschule hätte?“, „Welche Angebote sollte sie haben?“, „Und wie sollte sie sein?“. Für die Beantwortung dieser Fragen kamen ca. 40 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schulen des Altmarkkreises in die Aula des Kunsthauses Salzwedel und ließen ihren Ideen freien Lauf. Unterstützung bekamen sie von zwei Kreativtrainerinnen. Diese gaben den Jugendlichen Techniken an die Hand, sich in eine kreative Stimmung zu bringen und Ideen-Boards für ihre zukünftige Jugendkunstschule zu entwickeln. Die Schülerinnen und Schüler entwickelten ihre Ideen zu den zentralen Fragestellungen. Dabei waren die Schwerpunkte mögliche analoge und digitale Angebote, der Standort der Jugendkunstschule sowie deren möglicher Name.
Die Initiierenden waren begeistert von den verschiedenen Ansätzen, die die Jugendlichen direkt auf die Tische schrieben, malten und klebten. Die ausführliche Dokumentation dieser Zukunftswerkstatt dient zusammen mit den Angebotswünschen der Jugendlichen als Arbeitsgrundlage für die Angebotsentwicklung einer möglichen Jugendkunstschule. Der von den Jugendlichen geäußerte Bedarf liegt in dem Bereich der klassischen Kunstbildung sowie in der Vermittlung von künstlerischen Techniken. Aus diesem Bedarf heraus ergeben sich klar strukturierte Kursangebote, mit dem Ziel einer professionellen Ausbildung und einer Berufsvorbereitung in Richtung visuelle Gestaltung.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt im Bereich Jugendkultur und Subkultur, darunter Themen wie Lernen durch Vorbilder, Lifestyle, Freundschaften, Bewegungen, Gruppenzugehörigkeit, Spaß sowie selbstbestimmtes Gestalten und Experimentieren. Hierzu gehören Angebote rund um Graffiti und Street-Art, Musik und Tanz, Mode und Kultur. Ein großer Wunsch von den Jugendlichen ist es außerdem, digitale Gestaltungsprogramme kennenzulernen, die digitale Bühne zu nutzen, um Ideen auszutauschen, sowie das Programmieren zu lernen. Hierfür sind sogenannte Makerspaces ein beliebtes Format.
Kinder und Jugendliche, die heute im ländlichen Raum aufwachsen, erleben tiefgreifende Veränderungen. Die Altmark ist geprägt von Leerstand, dem demografischen Wandel und wenig Besiedelung. Entfernungen zu Bekannten, Schule und Nachmittagsprogramm sind größer als anderswo. In der Schule werden Kunst- und Musikunterricht aufgrund des Lehrkräftemangels häufig nicht mehr angeboten. Hohe Arbeitsauslastung in den Schulen sowie Unterrichtsausfälle gehören zum Alltag. In vielen Familien fehlt neben der Zeit für außerschulisches Programm auch das Geld. Ein Hobby zu haben, ist hier ein Privileg. Die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse, wie jenes nach sozialem Austausch, werden durch die Bedingungen vor Ort erschwert. Herausforderungen wie die Corona-Pandemie, die rasanten Entwicklungen in der Medienwelt, Drogen- und Alkoholkonsum, der Klimawandel, Migration, politische Polarisierung und die Energiekrise mit starken finanziellen Belastungen der familiären Haushalte wirken sich darüber hinaus spürbar auf die Lebensrealität aus. Besonders auf die von Kindern und Jugendlichen. Es zeigt sich in der Altmark aber auch ein vielfältiges Bild kultureller Aktivitäten sowie ein hoher Grad an Vernetzung, worauf sich ein hoffnungsvolles Bild aufbauen lässt.
In der Zusammenfassung der Bedarfe und Herausforderungen, und mit Blick auf die großen kreativen Potentiale in der Region, auf die am Ende des Textes noch eingegangen wird, lässt sich ein unverwechselbares Profil einer Jugendkunstschule Altmark formulieren:
Ziele der Jugendkunstschule Altmark
1. Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung
Indem Kinder und Jugendliche verschiedene künstlerische und kulturelle Formate anwenden, erfahren sie, dass sie ihre Lebenswelt selbst und mit eigenem Ausdruck gestalten können. Daraus resultiert, dass die eigene Umwelt als veränderbar wahrgenommen wird. Wer etwas verändern kann, ist engagierter, dies auch zu tun. Außerdem führen die verschiedenen Formate und Begegnungen mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen dazu, dass die Kinder und Jugendlichen andere Perspektiven und Lebenswelten kennen und akzeptieren lernen.
2. Vernetzung der Kunst- und Kulturschaffenden sichert Kreativität
Die Jugendkunstschule Altmark versteht sich als ein Netzwerk von Kunst- und Kulturschaffenden aller Sparten, deren gemeinsames Ziel es ist, Kindern und Jugendlichen einen Freiraum zu bieten, um ihre Potentiale zu entfalten. Das Netzwerk profitiert nicht nur vom künstlerischen Austausch, sondern auch ganz praktisch von der gemeinsamen Ressourcennutzung, der Bündelung von Angeboten, der gegenseitigen Unterstützung sowie von einer verbindenden Koordination und Öffentlichkeitsarbeit. Die Jugendkunstschule will kunst- und kulturinteressierte Menschen auch überregional ansprechen, sie in die Region ziehen und somit durch neue Gesichter auch neue Impulse setzen.
3. Lücken überbrücken, Leerstand nutzen, Wandel gestalten
Unbestritten ist der Bedarf an Angeboten der Kulturellen Bildung in den ländlichen Regionen groß. Durch eine dezentrale Jugendkunstschule mit mobilen und digitalen Angeboten werden die Zugangs-, Teilhabe- und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen im ländlichen Raum gestärkt. Somit verfügt die Jugendkunstschule über einzigartige Potentiale für das Bildungs- und Betreuungsnetzwerk einer Region. Als Mittel der Kommunikation, über Sprachbarrieren hinweg, besitzt das künstlerische Repertoire ein hohes integratives Potential. Die Förderung von Kreativität ist eine grundlegende Voraussetzung für die Innovationskraft der gesellschaftlichen Entwicklung in der Region.
4. Enge Zusammenarbeit mit den Schulen und öffentlichen Verwaltungen in der Region
Angebote kultureller Bildung zu schaffen, braucht das Zusammenarbeiten von Kultur, Schule sowie Verwaltung. Kinder und Jugendliche erwarten von „ihrer“ lokalen Bildungslandschaft bzw. von den Angeboten in dieser Region, dass diese zugänglich und nah zur eigenen Lebenswelt sind. Als Bindeglied innerhalb der Bildungslandschaft ermöglicht die Jugendkunstschule, dass sich alle Beteiligten regional vernetzen, öffnen und in ein weiterführendes kooperatives Handeln kommen. Dadurch können bestmögliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Kinder und Jugendliche ihre kreativen Potentiale entdecken und entfalten können.
Insbesondere eine enge Abstimmung mit den Schulen bietet die Möglichkeit, gezielt Bedarfe der Schulen aufzugreifen und Angebote auch innerhalb der Schulen stattfinden zu lassen.
5. Partizipation von Kindern und Jugendlichen
Einander ernst nehmen, alle Perspektiven zulassen – Kompromissfähigkeit lernen. Alle Kinder und Jugendlichen sollen einbezogen werden. Das heißt nicht nur die Lauten, sondern auch die Stillen sowie diejenigen, die sich von den formalen Bildungsangeboten nicht genügend angesprochen fühlen. Mit ernsthaftem Interesse sollen die Themen und die Alltagskultur der Kinder und Jugendlichen aufgegriffen werden und sich reflektiert in der Angebotsstruktur der Jugendkunstschule wiederfinden. Insbesondere das Format „Zukunftswerkstatt“, welches in regelmäßigen Abständen stattfinden soll, bringt die Bedürfnisse und Visionen der Kinder und Jugendlichen in der Region auf den Tisch. Das Ziel ist, mit der Jugendkunstschule einen Beziehungsraum zu schaffen, der Raum für Kreation eröffnet. Hier soll man zukünftig als Gruppe und Individuum Mitbestimmung, Selbstwirksamkeit und Toleranz erleben.
Doch was wird nun aus all den Ideen und Wünschen? Als aktivste Agierende der kulturellen Bildung im Altmarkkreis Salzwedel haben sich die Künstlerstadt Kalbe e.V., vertreten durch ihre Vorsitzende Corinna Köbele und Anne Buch, freiberufliche Kunst- und Kulturvermittlerin, hervorgetan. Sie machen sich für die kreative Potentialentfaltung der Kinder und Jugendlichen in der Region stark. Hieraus entstand die Initiative „Jugendkunstschule Altmark“, der sich auch ein Netzwerk aus weiteren Agierenden des Altmarkkreis Salzwedel verbunden fühlt. Zu diesem Netzwerk gehören unter anderem die Kunststiftung Salzwedel, das Atelierhaus Hilmsen, die Museen der Altmark, das Kunstfestival „Wagen und Winnen“, der offene Kanal Salzwedel, die Kreismusikschule, das Jugendzirkusprojekt sowie mehrere Schulen und Jugendeinrichtungen der Region.
Der Aufbau und die Etablierung einer gut strukturierten kulturpädagogischen Einrichtung nimmt Zeit in Anspruch und muss in verschiedenen Entwicklungsstufen gedacht werden. Bundesweit vergleichbare Einrichtungen zeigen aber auch, dass die Jugendkunstschule Altmark auf eine strukturelle Förderung angewiesen sein wird, vor allem, um die Personalkosten des operativen Betriebs zu sichern und um Mittel für Projektförderungen einzuwerben. Auch Investitionen in die mobile Infrastruktur werden in der Gründungszeit nötig sein. Da kaum Teilnahmebeiträge vorgesehen sind, um die Angebote niedrigschwellig und für alle Zielgruppen erreichbar zu machen, müssen langfristige Förderprogramme erschlossen und kreative Synergien mit Kooperationspartnern, im Sinne gemeinsamer Ressourcennutzung, aufgebaut werden. Da kulturelle Kinder- und Jugendbildung ein öffentliches Interesse sein muss, liegt dem Land Sachsen-Anhalt seit Hebst 2022 eine entsprechende Konzeption zu „Aufbau und Etablierung einer Jugendkunstschule Altmark“ vor.